Trumps Wahlsieg offenbart unser eigenes Versagen
Gestern nacht ist eingetreten, was eigentlich nie hätte passieren dürfen. Donald J. Trump (das J. steht für „Ich, wer sonst“) hat die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 für sich entschieden und wird im Januar der 45. Präsident der Vereinigten Staaten. Mit allen Konsequenzen: Wir wissen heute nicht, was von seinen Forderungen („Build that wall!“), Versprechen („Mexico will pay for it, I guarantee ya!“), Drohungen („We have nuclear weapons. Why aren’t we using them?“) und Verirrungen der guten Sitten „nur“ Show waren (als ob das nicht schlimm genug wäre) und was tatsächlich in praktischer Politik münden wird. Es kann sein, dass alles schon nicht so schlimm kommen wird, wie in der nächsten Zeit zu lesen sein wird.
Es kann aber auch noch schlimmer kommen. Der Mann ist nicht ausrechenbar. Er ist ein egomanischer Narzisst, dem The New Yorker heute bescheinigte, so einer wie er käme sonst eigentlich nur im „klinischen Umfeld“, sprich in der Klapse vor. So jemand hätte – so Clintons und Obamas absolut berechtigte Mahnung – nie Präsident werden dürfen. Wirklich nicht?
Und trotzdem – oder gerade deshalb, wie Michael Moore schon im Juni warnte – ist er es geworden.
Kein Wunder, dass unsere (das heißt meine) von meist sehr liberal gesinnten, fest auf dem Grund der Demokratie stehenden Menschen geformte Filterblase, heute morgen mit einem Mentalkater allererster Güte aufwachte. Ganz so, als hätte man die ganze Nacht durchgesoffen, nur ohne Alkohol. Doch woran liegt das? Woher kommt dieser Kater, diese persönliche Erschütterung und Betroffenheit? Allenthalben lese ich, dass man jetzt ja wohl überhaupt nichts mehr für wahr nehmen dürfe. Wenn einer wie Trump US-Präsident werden kann, dann ist alles möglich. Auch das seit 1989 Undenkbare – ein Atomkrieg.
Wir blenden alternative Realitäten aus
Unter alledem liegt ein kollektives Unvermögen, sich eine alternative Realität jenseits der eigenen liberalen, weltoffenen, auf den unzweifelhaften Vorteilen der Globalisierung fußenden Weltwahrnehmung überhaupt nur vorstellen zu können. Ich schließe mich da ausdrücklich ein. Es will mir nicht in den Kopf, weshalb ein Land mit so stolzer demokratischer Tradition und dem verfassungsmäßig verbrieften Recht des Einzelnen auf die Suche nach dem persönlichen Glück, auf Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit, weshalb dieses stolze Amerika so gegen seine eigenen Prinzipien wählen konnte. Weil sie es können? WTF?!
Doch halt! Ist das nicht genau die europäisch-elitäre Sichtweise, die uns verblendet? Akzeptieren wir nur noch demokratische Wahlen, die in „unserem“ Sinne ausgehen? Die wir selbst so getroffen hätten? Die zu unserer Art, auf Politik und Weltläufe zu blicken passt? Was für eine Arroganz! Vielleicht sollten wir eingestehen, dass es sehr wohl eine Fülle von alternativen Realitäten gibt. Menschen, die ihr Leben unter ganz anderen Prämissen führen, unter anderen Zwängen, Sorgen, Nöten, Wünschen, Hoffnungen, Träumen. Menschen, die sich „strong leader“ wünschen, weil es ihnen reicht, wenn da jemand ist, der die Dinge regelt – selbst wenn man „die Dinge“ gar nicht so genau benennen könnte. Menschen, die von der links-liberalen Intellektuellenelite rechts liegen gelassen wurden, als die Globalisierung einen weiteren Sturm durch ihre gerade so auskömmliche Festanstellung fegte und die seit der Finanzkrise ohne Haus, ohne Job, aber mit einem Haufen Schulden dastehen. Menschen, die – so eine weitere These – in erster Linie weiß, männlich, mittelalt und durchaus bürgerlich und gut gebildet sind, aber seit einigen Jahren ihre angestammten Pfründe schwinden sehen, weil da eine Menge Konkurrenz um Jobs, Geld, Macht, Einfluss entstanden ist: besser ausgebildete Frauen, aufstiegshungrige Migranten, hochvernetzte Digitalbürger ohne Bedarf nach einer festen nationalen Identität, und so weiter.
„Irrationale Abstiegsangst!“, ruft gleich jemand, aber ist das wirklich so einfach? Sind das alles nur wahlweise Ungebildete, Abgehängte, „Deplorable“, Wutbürger, Nazis, oder Idioten? All diese Labels passen immer auf irgendwen, aber machen wir es uns nicht zu einfach, wenn wir jetzt rund 25 Prozent der wahlberechtigten Amerikaner (mehr waren es aufgrund der geringen Wahlbeteiligung von nur 53,1 Prozent nicht) für unzurechnungsfähig erklären? Ich möchte behaupten, dieses reflexhafte Mit-dem-Finger-auf-Andere-Zeigen ist ein Schutz vor unserer eigenen Unzulänglichkeit. Auf der einen Seite fordern wir eitel: „Die Welt ist eben komplex, da muss man sich eben Mühe geben, nach Lösungen zu suchen“. Auf der anderen Seite stellen wir jeden, der da nicht mitgehen mag oder kann kurzerhand als Depp hin. Merkste selber, ne?
Ausgrenzung ist der einfachste Weg zur Selbstvergewisserung – und gefährlich
Wir haben es uns in unserer links-liberal-intellektuell-elitären Echokammer so bequem gemacht, dass wir nicht merken, dass die vermeintlichen Idioten so doof gar nicht sind. Sie kriegen sehr wohl mit, dass sich da eine privilegierte Gruppe von Menschen mit Zugang zu meinungsmachenden Medien über sie erhebt (Sascha Lobo geht bei SPON auf ihre Rolle ein). Und jeder Politiker, der in seinem Bedürfnis nach medialer Aufmerksamkeit da mitmacht, wird gleich mit entlarvt. Ab- und Ausgrenzung führt zu Gruppenbildung. Auf beiden Seiten. Je undurchlässiger die Grenzen sind, desto stärker der innere Zusammenhalt, desto stärker die Tendenz, nach weiterer Abgrenzung zu suchen. Am Ende der Spirale geht es nur noch um „die oder wir“. Hillary oder Donald. Das „Volk“ oder die „Wirtschaftsflüchtlinge“. Die Nazis oder die „Lügenpresse“. (Frau Meike schrieb dieser Tage zum Thema Abgrenzung und Hass Lesenswertes.)
Und die Massenmedien machen diese Vereinfachung mit. Auflage, Views und Klicks rechtfertigen inzwischen den Verzicht auf Differenzierung und Perspektivwechsel, ja, in manchen Fällen auch auf Empathie und Anstand. Shared halt gut auf Facebook. Das bereitet den Vereinfachern in der Politik das Feld. Die Scheuers, Steinbachs, Petrys, Höckes, Gaulands, Kudlas dieser Republik reiben sich die Hände und schauen, wie weit sie noch gehen können. Der Applaus aus ihrer Gruppe treibt sie an, jede mausgerutschte Äußerung wird zum Vehikel der Selbstvergewisserung und weiteren Abgrenzung. Wenn wir Filterbubble-Bewohner heute wie angefahrene, betrunkene Rehe durch den Tag getorkelt sind, ohne zu wissen, wo unsere letzten (welt-)politischen Gewissheiten abgeblieben sind, können wir uns das getrost auf das eigene Brot schmieren. Unser Schock über das US-Wahlergebnis ist hausgemacht. Er ist Indiz unseres eigenen Versagens, alternative Realitäten als durchaus wirkmächtig und politikbestimmend anzuerkennen. Wir haben sie eine ganze Zeit lang erfolgreich ausgeblendet. Jetzt sind sie nicht mehr zu übersehen.
Was zu tun ist
Doch wenn wir im nächsten Spätsommer keinen noch heftigeren Schädel bekommen wollen, müssen wir damit aufhören. Sofort. Bis zur Bundestagswahl sind es nur noch zehn Monate. Das ist nicht viel Zeit, um erstens die eigenen Scheuklappen abzulegen, zweitens wirklich zu verstehen, was hierzulande überschlägig 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler bewegt und drittens dafür ein demokratisches Angebot zu formulieren, das ausreichend verfängt. Wenn wir von den 30 Prozent, die derzeit der neuen Rechten zuneigen nur 10 oder 15 Prozentpunkte wieder dem demokratischen Parteienspektrum zuführen – und zugleich möglichst viele Wähler mobilisieren helfen – wäre aus heutiger Sicht schon viel gewonnen.
Meine Befürchtung ist heute, dass die zehn Monate nicht reichen werden. Aber ohne den ernsthaften Versuch steuern wir gleich ungebremst in eine Zeit ungemütlicher Koalitionsbildungen (Rot-Rot-Grün anyone?), einem hohen Rechtspopulistenanteil im Bundestag und einer noch stärker vergifteten politischen Kultur in unserem Land entgegen. Lasst uns wenigsten in diesem Punkt besser sein als Amerika, und ein Vorbild für den Rest Europas. Wir sind es uns und unserer freien, demokratischen Gesellschaft schuldig.
NB: Dies ist ein Erklärungsversuch in Form einer spontanen Selbstdiagnose und Ursachenforschung unter dem frischen Eindruck des Tages nach der US-Präsidentschaftswahl am 8.11.2016. Er ist völlig subjektiv und vermutlich ziemlich unausgegoren, aber irgendwo muss man ja anfangen.